Die Menschen
"Die Menschen hier sind eine besondere Spezies", sagt Landrat Schulz, eingeborener Wendländer. Recht hat er. Und damit meint er nicht etwa nur die Eingeborenen, sondern die besondere Mischung aus Alteingesessenen und über die letzten Jahrzehnte Zugewanderten.
Zuwanderungsland war das Wendland seit langem; nach dem zweiten Weltkrieg strömten die aus den Ostgebieten Vertriebenen in den Landkreis, der in kurzer Zeit seine Einwohnerzahl verdoppelte. Viele zogen in den Folgejahren weiter, einige blieben und integrierten sich in die bäuerlich geprägte Gesellschaft.
Dann, in den Siebzigern, wurde das Wendland Schauplatz eines Dramas, das alles veränderte. Knapp entging das Wendland dem Schicksal, Standort eines Atomkraftwerks an der Elbe und einer gigantischen nuklearen Wiederaufarbeitungsanlage zu werden. Dafür ist noch immer der Salzstock bei Gorleben für ein Atommüll-Endlager im Rennen. Dieses Damoklesschwert über "Hinterwalden" hat die Gesellschaft im Wendland fundamental verändert. Die Proteste gegen den Abladeplatz für Millionen Jahre strahlenden Zivilisationsmüll, der seinerzeit eher nach politischen Erwägungen denn nach wissenschaftlich-geologischen Kriterien auserkoren wurde, zogen Menschen aus der ganzen Republik an. Viele entdeckten, dass sich hier gut leben lässt, kauften für wenig Geld ein altes Gehöft und begannen dort ihre Vision vom guten Leben in die Tat umzusetzen.
Dieser Zuzug dauert bis heute an und längst profitieren die Neuwendländer von den Entwicklungen, die von den Pionieren angeschoben wurden. Das vielfältige soziale Gefüge wird durchweht von einem weltoffenen Geist, bietet eine Fülle an selbstgeschaffenen Kulturangeboten und gemeinschaftlichen Aktivitäten. Alle Lebenshaltungen, vom eigenbrötlerischen Bauernschrat bis zum kreativen Exzentriker finden hier ihren Platz. Die selbstbewusste queer-Szene ist fest verwoben in der bunten wendländischen Gesellschaft, setzt aber auch immer wieder eigene glitzernde Akzente. Das verbindende Element der so unterschiedlichen Charaktere im Wendland ist Selbstbestimmtheit, Leben-lassen-können und Freude am Miteinander.
Die Kooperationsfähigkeit hat über viele Jahre ihren Höhepunkt im bestens organisierten Widerstand gegen die Castor-Transporte mit dem Atommüll ins "Zwischenlager" bei Gorleben gefunden. Hier ging der Bauer mit dem Punk gemeinsam auf die Straße und oftmals wurden beide friedliche Nachbarn, deren Alltagsleben auf natürliche Weise zusammenwuchs.
Das gelbe X als Symbol des gemeinsamen Widerstands begleitet einen durch den Alltag, mahnt als monumentale Installation am Wegesrand, blitzt aufmüpfig als Anstecker am Revers, demonstriert Haltung am Gartenzaun oder baumelt als Filzanhänger am Autorückspiegel.
Wendländer zu sein, ist eine Lebenshaltung, kein Abstammungsrecht. Wer sich entscheidet, hier zu leben, ist Wendländer von Anfang an.